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Jan 24

Die Not der unbegleiteten Minderjährigen

Amei von Hülsen-Poensgen von „Willkommen in Westend“ schreibt:
Liebe Alle,
kurz vor Weihnachten ging hier ein Hilferuf über das Netzwerk für unbegleitete Jugendliche, die in der Reichsstrasse leben. Die Hilfsbereitschaft war großartig, vieles hat sich bereits verbessert und es gibt Ehrenamtliche, die sich regelmässig kümmern – vielen Dank!
Es gibt aber nicht nur die Reichsstrasse. Nach unserem Wissensstand leben in Charlottenburg-Wilmersdorf Jugendliche in 8 Notunterkünften, d.h. in Hostels, Hotels, Jugendherbergen und ähnlichem. Es gibt jeweils einen Träger, der für die Betreuung zuständig ist. Um die Jugendlichen zu schützen sind die Adressen vertraulich – ganz sicher möchte man keine NPD-Mahnwachen vor den Häusern sehen.
Das führt leider dazu, dass auch wir nur zufällig von diesen Einrichtungen erfahren und helfen können. 5 Standorte in Westend kennen wir mit insgesamt ca. 300 Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren. Es sind fast alles Jungen, die 8 Mädchen sind gemeinsam in einer Einrichtung untergebracht. Wo die 3 anderen Einrichtungen sind, wissen wir nicht.
Vorgesehen ist, dass Kinder und Jugendliche, die unbegleitet ankommen eine Clearingphase durchlaufen. In der Zeit klärt man das Alter, welche Schulbildung sie haben, ob es Familienangehörige gibt und Zusammenführung möglich ist, gesundheitliche Probleme und auch, ob sie einem anderen Bundesland zugewiesen werden.… Nach dieser Clearingphase sollen sie in die Obhut des Jugendamtes kommen, dort soll ein Vormund bestellt werden, mit dem sie gemeinsam den Asylantrag stellen können und sie sollen in eine stationäre Einrichtung der Jugendhilfe kommen (Heime oder WGs, in denen sie von Sozialarbeitern betreut werden).
Soweit die Theorie – auch bei der für Jugendliche zuständigen Senatsverwaltung herrscht inzwischen Notbetrieb, ähnlich wie beim LaGeSo.
Auf ein Clearinggespräch warten die Jugendlichen zur Zeit 5-6 Monate – bis dahin werden sie in den besagten Hostels „geparkt“. Viele ihnen gesetzlich zustehende Leistungen erhalten sie nicht bzw. nur eingeschränkt. Monatelang gab es für die Krankenversorgung nur die Notaufnahme der Krankenhäuser, seit Dezember erhalten sie wenigstens Krankenscheine für Akutbehandlungen. Der medizinische Check, der dazugehört und auch Voraussetzung für die Einschulung ist, hat ebenfalls monatelange Wartezeiten – da soll es jetzt jedoch eine Lösung geben und bis Ende Februar sollen den alle durchlaufen haben.
Von den ca. 300 Jugendlichen in Westend, von denen viele bereits seit September hier sind, gehen ca. 10 % zu Schule. Mit dem neuen Halbjahr werden weitere zur Schule kommen (wir schätzen 30-40), wann es für den Rest endlich losgeht, kann uns zur Zeit niemand verbindlich sagen. Einige Träger versuchen die Zeit mit von ihnen bezahlten Sprachlehrern zu überbrücken. Bei anderen gibt es gar keine Angebote, bzw. lediglich ehrenamtlichen Sprachunterricht für wenige Stunden in der Woche. Es gibt viele Analphabeten darunter, für 24 versuchen wir gerade einen Unterricht an 5 Tagen in der Woche zu organisieren. Es sind aber geschätzt 60, die diese Hilfe brauchen – ehrenamtlich ist das nicht zu leisten.
Die Träger bekommen 1 €/Tag für jeden Jugendlichen für Bekleidung. Wir wissen nicht, ob dieses Geld immer bei den Jugendlichen ankommt, in jedem Falle ist es viel weniger als gesetzlich vorgesehen und zu wenig, um einen Jungen auszustatten, der mit kurzer Hose und Sandalen ankam.
Viele sind in der Hoffnung gekommen ihre Familien nachholen zu können. Durch die langen Wartezeiten werden sie 18, bevor überhaupt ein Asylantrag gestellt werden kann – Familiennachzug ist damit unmöglich und die Verzweiflung deshalb groß.
Die Kapazitäten in den stationären Einrichtungen sind erschöpft, manche der jetzt notdürftig organisierten Unterkünfte werden lange bestehen bleiben.
Die Träger erhalten 3,50€/Tag pro Jugendlichem Fahrgeld – in manchen Unterkünften gibt es jetzt Monatskarten für jeden, in anderen (manchmal zu wenige) Karten, die sie sich ausleihen können – sie haben aber keinen Berlinpass für ermässigte Karten.
Gesetzlich zustehen tut ihnen mehr, aber sie erhalten 1 €/Tag Taschengeld – wenn man von Gemeinschaftsverpflegung abhängig ist und sich mal Schokolade oder einen Apfel leisten möchte, reicht das noch nicht einmal für das Handyguthaben, um Kontakt zur Familie halten zu können und Internet ist in den meisten Unterkünften Fehlanzeige.
Mit dem 18. Geburtstag mussten sie bisher die Einrichtungen verlassen (obwohl es die gesetzliche Möglichkeit gibt, die Jugendhilfe zu verlängern), immer wieder gibt es Jugendliche, die wegen des Chaos beim LaGeSo auf der Strasse landen. Es heißt, es gäbe da jetzt Linderung, sie sollen nun noch ein weiteres Jahr in den Einrichtungen bleiben können.
Auch wenn Sozialarbeiter und Ehrenamtliche sich um Freizeitangebote bemühen – viele sind frustriert, weil sie keine Perspektive sehen und das Rumsitzen sie zermürbt. Welche Folgen das hat, kann sich jeder leicht vorstellen. Eine erschreckend hohe Anzahl (genaue Zahlen kennen wir nicht) verschwindet einfach – wohin weiß niemand und es wird angeblich auch nicht nachgeforscht. Dabei sind es Minderjährige, die für Missbrauch jeder Art besonders anfällig sind…
Es lohnt ein Blick in die Zusammenstellung des Flüchtlingsrates Praxis versus Rechtslage um zu verstehen, wie dramatisch die im letzten Jahr noch geltenden Standards abgesunken sind. http://www.fluechtlingsinfo-berlin.de/fr/pdf/UMF_Berlin_Praxis_versus_Rechtslage.pdf
Was können wir tun?
– Wer hat eine DAF-Ausbildung und kann auch aber nicht nur Analphabeten unterrichten und würde eine Weile als Honorarkraft arbeiten? Bitte melden bei Kontakt@willkommen-im-westend.de – Wir stellen Kontakt zu den Trägern her und versuchen damit regelmässigen Unterricht zu ermöglichen.
Ehrenamtliche, die regelmässig 1-2x/Woche Deutsch unterrichten wollen (auch Analphabeten) bitte melden bei Cornelia@willkommen-im-westend.de
Es werden Patenschaften und Vormundschaften gebraucht für diese Jugendlichen: Am Montag, 25.1.um 18.00 h veranstaltet „Charlottenburg hilft“ dazu eine Infoveranstaltung  im Stadtteilzentrum in der Nehringstrasse 8
Frau Junge-Reyer, die Senatsbeauftragte für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge kommt am 27.1. um 19.00 h auch in das Stadtteilzentrum Nehringstrasse 8. Bei ihr laufen im Moment viele Fäden zusammen, das ist ein Abend, an dem hoffentlich auch nach Lösungen gesucht werden kann.
– Konkrete Freizeitangebote, Kontakte zu Sportvereinen oder anderes, was die Jugendlichen aus den Heimen herausholt bitte an umf@kompetenz.ev (3 Einrichtungen mit ca. 220 Jungendlichen in Westend), an info@charlottenburghilft.de oder an Kontakt@willkommen-in-westend.de
– Hilfe in der neuen Spendenannahmestelle in der Akazienallee 36, dort sollen zentral Kleiderspenden auch für die Minderjährigen angenommen und sortiert werden, bevor sie dann bedarfsgerecht in die Unterkünfte kommen. Wer helfen will: mirjam@willkommen-im-westend.de
und:
– Wer hat Lust und Zeit speziell unsere Arbeit mit unbegleiteten Minderjährigen zu koordinieren? D.h., Kontakt zu den Trägern und Behörden halten, Hilfsangebote koordinieren und evtl. ein Patenschaftsprogramm mit aufbauen?
– Auch auf politischer Ebene Beschäftigung mit dem Thema, z.B. Druck auf allen Ebenen, damit sie endlich zur Schule kommen. Aber auch Fragen über Willkommensklassen hinaus: Es gibt nicht annähernd genug Angebote für Jugendliche mit Bildungsverläufen, die ganz anders sind, als die unserer Kinder. Wir müssen den 17jährigen Analphabeten Chancen bieten. Wie bringen wir mindestens 4 SchlaU Schulen oder ähnliche Programme nach Berlin? http://www.schlau-schule.de
Es lohnt sich, Zeit in diese Jugendlichen zu investieren. In der vergangenen Woche durfte ich Gast sein bei der Einweihungsparty für den neuen Gemeinschaftsraum in der Reichsstrasse. Noch fehlen zwar die Möbel – aber die Stimmung war nicht zuletzt dank der eigenen Hausband super!
Herzliche Grüße
Amei v. Hülsen